Montag, 29. Juni 2009

Erziehung – Übung – „Erbsünde“?

In den ‚Reden der Unterweisung' Eckharts findet sich eine Bemerkung, die mich nachdenklich macht, besonders da ich gerade Sloterdijks neue Studie ‚Du musst dein Leben ändern' lese. Darin geht es um die Geschichte der spirituellen und nicht mehr spirituellen Askese.

Eckharts Gedanke ist, dass die Vorbereitung der Erfahrung der "Gottesgeburt" Anstrengung (gewalt) braucht. Die psychologisch-soziokulturelle Begründung stellt wahrscheinlich unsere gewohnten Ansichten von Erziehung auf den Kopf. Die Anstrengung zur Gotteserfahrung bedeutet für Eckhart nämlich nicht eine Überwindung, Veredlung oder gar Umkehrung des natürlichen Zustandes, sondern dessen Wiederherstellung; denn die menschliche Natur ist in seiner Sicht immer schon auf die Gottesbeziehung ausgerichtet: »Niemals kehrt sie [die Vernunft] sich anderswohin [als zu Gott]. Den Kreaturen wendet sie sich nicht zu, ihr geschehe denn Gewalt und Unrecht, wobei sie geradezu gebrochen und verkehrt wird. Wenn sie dann in einem jungen oder sonst einem Menschen verdorben ist, dann muss sie mit großem Bemühen gezogen werden, und man muss alles daransetzen, was man vermag, das die Vernunft wieder gewöhnen und [er]ziehen kann. Denn so zu eigen und so naturgemäß Gott ihr auch sein mag: sobald sie erst einmal falsch gerichtet und auf die Kreaturen gegründet, mit ihnen bebildert und an sie gewöhnt ist, so wird sie in diesem Teil so geschwächt und ihrer selbst so unmächtig und an ihrem edlen Streben so behindert, dass dem Menschen aller Fleiß, den er aufzubringen vermag, immer noch zu klein ist, sich völlig wieder zurückzugewöhnen. Und setzt er auch das alles daran, so bedarf er selbst dann noch beständiger Hut.« – Niemer gekêret si sich anderswar nâch. Ze den crêatûren enkêret si sich niht, ir engeschehe denne gewalt und unreht; si wirt dâ rehte gebrochen und verkêret. Dâ si denne ist verdorben in einem jungen menschen, oder swaz menschen daz ist, dâ muoz si mit grôzem vlîze gezogen werden und muoz man dar zuo tuon allez, daz man vermac, daz die vernunft her wider wene und ziehe. Wan, swie eigen oder natiurlich ir got sî, sô si doch mit dem êrsten wirt verkêret und wirt begründet mit den crêatûren und mit in verbildet und dar zuo gewenet, sô wirt si an dem teile alsô verkrenket und ungewaltic ir selbes und ir edeliu meinunge alsô sêre verhindert, daz aller vlîz, den der mensche vermac, der ist im iemer kleine genuoc, daz er sich alsô zemâle wider gewene. Sô er daz allez getuot, dannoch bedarf er stæter huote. (RdU c. 21, DW V, S. 277,6–278,2)

Sozialisation und Enkulturation "verderben" die Vernunft der Kinder, so dass sich der Mensch mit größter Anstrengung wieder an den rechten Blick "gewöhnen" und "[er]ziehen" muss? – Ich finde das bedenkenswert. Ich verstehe nicht, warum die Leute ein Problem mit der sogenannten "Erbsünde" haben. Ich glaube, das kommt aus der neuzeitlichen subjektivistischen Vorstellung von Verantwortung, die eine Vorbelastung durch eine "Sünde" verständlicherweise ablehnt. Aber dahinein mischt sich auch viel Unkenntnis. In der Theologiegeschichte spricht man eigentlich von der "Ursünde" Adams und von der "Erbschuld" des Menschen. Dabei wird "Schuld" als ein Mangel (schulden) verstanden. Es fehlt dem Menschen, was er eigentlich haben sollte. Kann es daran einen Zweifel geben, dass ein Mensch in die egozentrischen, machtbesessenen, ungerechten, lieblosen Zustände der Zeit hineingeboren wird? Größere Schwierigkeiten hätte ich mir den magisch oder politisch verstandenen Heilsvorstellungen ("Taufgnade" oder "wirtschaftliches Wachstum").

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