Freitag, 2. April 2010

Eckhart selbst gibt selbst zu verstehen, dass die physikalische Natur ein anderes Gesetz hat als das „Sein in der Seele“. Die Naturdinge kennten nicht den Bauplan der Dinge, sondern hier werde eine Dinggestalt durch die nächstliegende gleichgeartete Ursache hervorgebracht, das Feuer durch ein Feuer (In Ioh n. 31, LW III, S. 24,10–12). Von diesem ursächlichen Zusammenhang ist der intellektuelle Begründungszusammenhang zu unterscheiden. Innere, geistige Abfolgen werden nicht von Ursachen bewirkt, sondern aufgrund der ratio (Idee, Grund, Gesetz) erzeugt. Sie haben Sprachcharakter, denn die ratio ist zugleich Wort, was im griechischen Begriff Logos ausgedrückt ist (Ebd. S. 24, 12–16). Damit ist der Bereich angedeutet, für den alles gilt, was Eckhart von den Analogieverhältnissen der Transzendentalien oder von den univoken Prinzipiierungsverhältnissen sagt, das heißt, in diesem Bereich vollzieht sich die Geburt des Wortes in der Seele, in diesem Bereich lebt der Mensch eigentlich. Eckhart grenzt diesen Bereich, wie soeben gesehen, vom ens reale ab und nennt ihn durchwegs intellectivum oder ens in anima, andernorts ens cognitivum, ens verum oder ens intellectuale. Flasch spricht vom es „Erkenntnissein“ (Kurt Flasch, Meister Eckhart – Philosoph des Christentums. München, Beck 2010, S. 125). Dabei wäre aber „Erkenntnis“ in weitem Umfang zu fassen; denn das Sein des Seienden gründet in der „Form“, in der causa formalis oder essentialis; „sie ist im eigentichen Sinn das Prinzip des Seins, des Erkennens, des Liebens und Handelns“ (In Ioh n. 338, DW III, S. 287, 4 f.). In moderner Sprache könnte man die Begriffe „Vernunft“, „Bewusstsein“ oder „Erleben“ benützen, wenn diese nicht in einem spezifischen Sinne festgelegt wären; am besten erscheint mir der Ausdruck „innere Erfahrung“ wiederzugeben, was Eckhart mit dem intellectivum anspricht. Auf die Transzendentia angewandt, heißt das: Sein, Einssein, Wahrsein, Gutsein, Rechtsein, Erkennen, Lieben, Freiheit sind innere Erfahrungen. Wenn Eckhart von ihnen spricht, meint er nicht die empirisch feststellbaren Bewusstseinsakte oder Haltungen.
Naturprozesse unterliegen einer äußeren Veränderung, sie wirken und werden bewirkt. Insofern haben sie Wirkursachen und Ziele. Der Metaphysiker aber betrachtet die Dinge nach ihrem Wesen, das Seiende als das Seiende (In Ioh. n. 443, DW III, S. 380,7–10). Darin aber gibt es keine Wirkung und kein Ziel als äußere Ursachen, sondern nur innere Seinsgründe, Form- oder Wesenursachen. Diese übertragen eine Seinsgestalt wie ein Urbild zum Abbild.

Donnerstag, 1. April 2010

Bekannt ist die Erklärung zur Intention Eckharts aus dem Kommentar zum Johannesevangelium. Danach will Eckhart die Lehren der Bibel, das heißt die theologischen Aussagen, mit natürlichen, philosophischen Argumenten auslegen.
An diese Absichtserklärung schließt sich im Kommentar zum Johannesevangelium eine zweite Intention an, die viel häufiger wiederholt und exemplifiziert wird als die erste: „Ferner will dieses Werk zeigen, wie die Prinzipien, Schlussfolgerungen und die Eigenart der Naturverhältnisse ganz gut – wer Ohren hat zu hören! – in den Worten der Heiligen Schrift angedeutet sind, wenn man die Schrift mittels der besagten Naturverhältnisse auslegt“. Mit anderen Worten: Das Verständnis der Naturverhältnisse erklärt die biblischen Lehren, und die so verstandenen theologischen Aussagen erhellen wiederum die Naturverhältnisse. Meister Eckhart fügt ein: „Wer Ohren hat zu hören“; damit sagt er wohl, dass ihm der Satz wichtig ist und dass dessen Bedeutung aber leicht überhört werden kann. An etwas späterer Stelle desselben Kapitels, an der erläutert wird, inwiefern in Gott der Sohn oder das Wort dasselbe ist wie der Vater oder das Prinzip, heißt es: „Das möchte ich gesagt haben, insofern die hier über den Ausgang der Personen in Gott geschriebenen Worte [uns] darüber belehren sollen, dass es im Ausgang und in der Hervorbringung eines jeden natürlichen und künstlichen Seienden ebenso ist und sich dort wiederfindet“.
Hier proklamiert Eckhart seine Absicht, die fundamentalen Prinzipien seiner Gotteslehre auf die Natur (_natura_) und die Kunst (_ars_) anzuwenden. _Ars_ steht für die Hervorbringungsweise menschlichen Schaffens. _Natura_ umfasst das Sein aller Weltdinge, besonders aber der natürlichen menschlichen Seinsweisen, deren Prinzip, qua Schöpfungswort, die Vernunft ist.
Diese Erläuterung wird in die Erklärungen des Prologs des Johannesevangeliums eingefügt. Das bedeutet: Nach Eckharts Verständnis haben die natürlichen Hervorbringungen des Menschen dieselbe ‚Produktionsweise’ wie der Hervorgang des göttlichen Sohnes in der Trinität aus dem Vater. Sie sind nicht „gemacht“, sondern „gezeugt“ oder „geboren“. Es ist demnach nicht von naturalistischer Physik oder Biologie die Rede, sondern vom Strukturprinzip, von der Idee aller Dinge – in der Vernunft.
In einer Engführung dieses Interpretationsansatzes lege ich die Aussagen Meister Eckharts über das Verhältnis Gottes zu den Menschen und die Aussagen Eckharts über das geistige Leben des Menschen mit modernen „philosophischen“ Argumenten aus. Der theologischen Methode Eckharts entspricht demnach eine phänomenologische Methode im Bereich der Psychologie. Eckharts metaphysische Theorie soll nach seinen Worten eine „natürliche“ Korrespondenz haben. Diese gilt es in den Phänomenen des psychischen, des mentalen Lebens „aufzuzeigen“.